• Rathaus Borsele © Ulrich Schwarz

Ikea Classicism

Atelier Kempe Thill l Rotterdam

André Kempe

Auf der einen Seite müssen Architekten extrem neutrale und anonyme Gebäude produzieren, die flexibel auf veränderte ökonomische Situationen reagieren können. Andererseits wird von ihnen verlangt, sehr spezifische Gebäude zu entwerfen mit einzigartigen Räumen.
Atelier Kempe Thill wählen dieses moderne Paradox sehr bewusst als den Ausganspunkt für ihre Arbeit. Das Büro ist bestrebt, Strukturen zu entwerfen, die neutral und ökonomisch und zugleich angenehm und innovativ sind.
Das Arbeitsfeld des Büros umfasst Städtebau, öffentliche Gebäude, Wohnungsbau, Innenarchitektur, Ausstellungsdesign sowie Forschung und Lehre.
Atelier Kempe Thill arbeitet mit 22 Mitarbeitern an Projekten in den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Belgien, der Schweiz, Frankreich, Marokko und Ägypten.

Die Veranstaltung wurde unterstützt durch die Universitätsbibliothek Freiburg.

Ikea Classicism

André Kempe vom Atelier Kempe Thill aus Rotterdam: Was man vom Bauen in anderen Ländern lernen kann

von Gisela Graf, Freiburg | gisela graf communications

Einzigartig soll die Architektur sein, unverwechselbar und spezifisch. Doch was ist in fünf oder zehn Jahren? Wer mag das dann noch sehen? Deshalb wird von Architekten auf der anderen Seite erwartet, neutrale Bauten zu entwerfen, die dem Lauf der Zeit standhalten. Die Architekten André Kempe und Oliver Thill sind sich dieses Gegensatzes bewusst und meinen, dass man die beiden Pole miteinander verbinden kann, „wenn man in der Neutralität die Spezifik erkennt“, wie André Kempe bei seinem Vortrag in der UB Freiburg demonstrierte.

Die beiden Wahl-Niederländer, die aus der ehemaligen DDR stammen, nennen ihre Entwurfsstrategie „Spezifische Neutralität“ oder „Ikea Classicism“: Nach der guten Form suchen und dabei so bauen, dass es sich auch die „Ikea-Generation“ leisten kann. Der Wohnungsbau ist eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder von Atelier Kempe Thill, das vor allem in den Niederlanden und Belgien, aber auch in Frankreich und anderen europäischen Ländern baut. An diesem Abend drehte sich alles um die Frage, wie man Anregungen aus anderen Ländern bekommen kann, um kostengünstig zu bauen.

Gemäß ihrem Vorsatz, bei minimalen Budgets das Maximum an Innenraumqualität zu erreichen, kamen die Architekten zu Lösungen, die sie im Lauf der Zeit verfeinerten. Für eines ihrer ersten Wohnprojekte in Amsterdam-Osdorp schufen sie Reihenhäuser mit schmalen und tiefen Grundrissen. So konnte die Fassadenoberfläche, generell der teuerste Teil eines Hauses, reduziert werden. Ausgeglichen wird die Tiefe durch eine vollständige Glasfassade und einen doppelt hohen Wohnraum: so wirken die Wohnungen groß und hell. Eine gute Energiebilanz durch die geringe Oberfläche im Verhältnis zum Volumen ist ein positiver Nebeneffekt. Ein ähnliches Prinzip – tiefe Wohnungen, vollverglaste Fassade, geringe Oberfläche – wandten sie für Studenten-Apartments in einem fast würfelförmigen Gebäude im niederländischen Zwolle an. Baukosten: jeweils unter 900 Euro pro Quadratmeter.

Nach diesen Vorübungen beschlossen die jungen Architekten, ihre Strategie – kompakte Häuser mit Glasfassaden – in andere Länder zu exportieren. Es gelang ihnen schließlich in Flandern, in dem neuen Stadtteil „Nieuw-Zuid“ in Antwerpen mit einem Niedrigenergie-Passivhaus mit 32 Wohnungen, Gewerberäumen und Tiefgarage. Doch was in Holland, das keine Scheu vor transparenten Häusern hat, möglich war, ging in Belgien gar nicht. Also bekam jede der zwischen 40 und 160 qm großen Wohnungen noch 30 qm Wintergarten dazu: in Form von vorgelagerten Terrassen, die mit beweglichen Glaswänden geschlossen werden können. So wurde der private Raum etwas zurückgesetzt, ohne dass etwas vom Wohnraum genommen werden musste – denn die belgischen Behörden erlaubten bis zu drei Meter Balkone und Terrassen über Baufluchtlinie hinaus. Das Fassadenraster besteht aus vorgefertigten Betonstützen und -balken.

Auch in Paris wollten die Architekten ihr Konzept anwenden, doch hier trafen sie auf schwierige und komplizierte Städtebauregeln, zentralisierte Behörden und große, monopolisierte Baukonzerne. Im Gegensatz zu den Niederlanden verfügt man in Frankreich kaum über Erfahrung mit industriellem Wohnungsbau. Das alles trieb die Baukosten in die Höhe – was durch Improvisieren wieder ausgeglichen wurde. An dieser Stelle wurde der Vortrag zu einem unterhaltsamen Bericht von der Baustelle, über Missgeschicke und unangenehme Überraschungen. Dennoch konnten Kempe Thill ihr Programm weitgehend realisieren: 55 Wohnungen sind in zwei kompakten Würfeln organisiert, die über einen kleinen Gemeinschaftsgarten miteinander verbunden sind. Sämtliche Grundrisse sind flexibel, die Fassaden sind mit Schiebetüren verglast. Wintergärten ziehen sich rund um die Fassade, sodass ein Außenraum entsteht, der nebenbei auch als Klima- und Lärmschutz dient.

Mit diesen und vielen anderen Projekten hat das Büro bewiesen, dass man individuelle Lösungen für kleine Budgets finden kann, ohne dabei die Qualität aufzugeben. Denn selten gibt es wohl – wie im Fall Antwerpen – Wohnungen mit Parkett, Wintergarten und hochwertiger Küchenausstattung bei einem „Ikea-Budget“ von 1072 Euro pro qm.

André Kempe, Atelier Kempe Thill l Rotterdam

André Kempe und Oliver Thill wanderten nach ihrem Architekturstudium in Dresden nach Holland aus und gründeten ihr Rotterdamer Büro im Jahr 2000 mit einem fulminanten Start: sie gewannen den Wettbewerb eines riesigen Wohnprojekts, das dann jedoch wegen der Finanzkrise nie gebaut wurde. Dennoch konnten sie sich auf dem Markt gut behaupten und führen heute ein Büro mit 22 Mitarbeitern. Ihr Arbeitsfeld umfasst Städtebau, öffentliche Gebäude, Wohnungsbau, Innenarchitektur, Ausstellungsdesign sowie Hochschulbau. Atelier Kempe Thill arbeitet an Projekten in den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Belgien, der Schweiz, Frankreich, Marokko und Ägypten.

Atelier Kempe Thill l Rotterdam
www.atelierkempethill.com